
Siegbert Tarrasch: Das Schachspiel - Die Anfangsgründe (1)
Aus dem Vorwort
Daß das Schachspiel, diese wundersame Gabe aus dem Morgenlande, nicht nur das edelste und schönste aller Spiele ist, sondern auch, an der Grenze von Spiel, Kunst und Wissenschaft stehend, zu den größten geistigen Genüssen gehört, diese Behauptung wird jeder Schachspieler gern bestätigen. Es hat nur den einen Fehler, daß es sehr schwer zu erlernen ist. Diesem Übelstande glaube ich mit diesem Lehrbuch abgeholfen zu haben.
Es hätte wenig Zweck gehabt, den vielen vorhandenen Lehrbüchern ein neues hinzuzufügen, wenn dieses nach dem selben Schema gearbeitet wäre wie die andern. Aber es ist in der Methode, die Anfangsgründe und das Mittelspiel zu lehren, etwas vollständig Neues. Ich behaupte, daß jemand, der vom Schachspiel noch gar nichts weiß, aus keinem einzigen der bisherigen Lehrbücher es lernen kann, einfach deshalb, weil die in ihnen angewandte Methode, die Anfangsgründe zu lehren, nach meiner Ansicht ebenso verfehlt ist, wie wenn man einem Kinde, um ihm das Sprechen beizubringen, einen Vortrag über Grammatik der deutschen Sprache halten wollte. Ich wende in diesem Buche für die Anfangsgründe eine völlig neue Methode an, nämlich dieselbe, mit der die Mutter dem Kinde das Sprechen beibringt. Ich fange mit dem Anfänger gleich zu spielen an, indem ich ihm einfache Stellungen vorführe und an ihnen die Grundregeln des Schachspiels erläutere. Also Anschauungsunterricht. Dabei erlernt der Schüler das Schachspiel ganz leicht, wie ich mich überzeugt habe, es wird ihm 'spielend' beigebracht, wobei ich immer vom Leichteren zum Schwereren fortschreite und den Schüler schachlich sehen lehre.
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Für die richtige Benützung des Buches muß ich dem Anfänger noch einige wichtige Ratschläge geben. Er möge ja nur den begreiflichen Wunsch, möglichst bald eine Partei zu spielen, unterdrücken. Das Partiespielen im Anfängerstadium ist der sichere Weg zur Stümperschaft. Erst dann, wenn er die Anfangsgründe immer und immer wieder durchgearbeitet und alle darin erörterten Kombinationen sich zu eigen gemacht hat, erst, wenn er die Endspiele durchstudiert und damit seinen Blick geschärft hat, erst, wenn er das ganze riesige Material des Mittelspiels sich assimiliert hat, - dann ist er längst kein schwacher Spieler mehr, auch wenn er gar nicht gespielt hat. [. . .] Hat er Ehrgeiz und will er es zur Meisterschaft bringen - Übung macht den Meister. Jeder leidlich begabte Spieler, er braucht keineswegs hervorragend veranlagt zu sein, kann es zum Meister bringen. Aber das ist ja auch gar nicht nötig! Der richtige Standpunkt ist es, zu seinem Vergnügen zu spielen und man glaube ja nicht, daß der Genuß proportional dem Können sei. Die größten Stümper haben häufig den größten Genuß vom Schachspiel, sie geraten schon aus dem Häuschen vor Entzücken, wenn ein Springer gleichzeitig König und Dame angreift. Der eigentliche, feinste Reiz des Schachspiels liegt darin, daß man dabei geistig produktiv tätig ist. Und das geistige Produzieren gehört zu den größten Genüssen des menschlichen Lebens, wenn es nicht der größte ist. Nun kann nicht jeder ein Drama schreiben oder eine Brücke bauen, ja es kann nicht einmal jeder einen guten Witz machen. Aber im Schachspiel, da kann, da muß jeder geistig produzieren und dieses erlesenen Genusses teilhaftig werden. Ich habe ein leises Gefühl des Bedauerns für jeden, der das Schachspiel nicht kennt, ungefähr so, wie ich jeden bedauere, der die Liebe nicht kennengelernt hat. Das Schach hat wie die Liebe, wie die Musik die Fähigkeit, den Menschen glücklich zu machen.
Den Weg hierzu wollte ich in diesem Buche weisen.
Das Schachbrett
Beispiel 1
Vor allem muß der Anfänger die Bezeichnung der einzelnen Felder des Schachbretts erlernen und darin einige Übung erlangen. Die 64 Felder bilden senkrechte Linien und waagrechte Reihen. Die Linien werden von links nach rechts mit den Buchstaben a-h bezeichnet, die Reihen mit den Ziffern 1-8. Danach ist die Bezeichnung jedes Feldes klar ersichtlich.
König und Turm
Nehmen Sie bitte die beiden Könige, das sind die größten Figuren, weil sie die wichtigsten sind, und stellen Sie den weißen auf f6, den schwarzen auf g8. Dann nehmen Sie einen weißen Turm, das sind die ganz dicken Figuren, die auch aussehen wie Türme einer alten Burg, und stellen Sie den Turm auf b1.
Beispiel 2
Der Turm zieht von b1-b8, also in der gebräuchlichen Notation 1.T (abgekürzt für Turm) b1-b8. Der Turm zieht, wie Sie sehen, gerade aus, und zwar nach allen Richtungen, er könnte also von b1 auch nach a1 oder nach d1, g1, h1 usw. ziehen.
Auf b8 angekommen, greift er den schwarzen König an, er zielt auf ihn, denn er steht nun in seiner Zugstraße.
Das Schachgebot
Einen solchen Angriff auf den König bezeichnet man mit dem Worte 'Schach' (=König) und man sagt dazu auch 'Schach!' Weil nämlich ein Angriff auf den König, ein Schachgebot, immer und unter allen Umständen respektiert werden muß. Der angegriffene König muß sich auf irgendeine Weise dem Angriff entziehen. Aber wohin kann der König ziehen?
Da der König immer nur einen Schritt nach allen Richtungen ziehen darf, so kommen nur die Felder f8, h8, f7, g7 und h7 in Frage.
Nach f8 darf er nicht, denn da wäre er ja noch gerade so dem Angriff des Turmes ausgesetzt wie auf g8. Und auf h8 stände er ebenfalls noch im Schach. Nach f7? Ein König darf niemals dem andern zu nahe treten. Auf f7 wäre er ja im Schlagbereich des feindlichen Königs! Der König darf niemals auf ein Feld ziehen, auf das ein feindlicher Stein hinzielt, er würde sich ja damit in Schach begeben! Also darf er nicht nach f7 ziehen, und aus ganz demselben Grunde auch nicht nach g7. Aber das Feld h7? Das ist von keinem feindlichen Stein angegriffen, nach h7 darf und muß er ziehen.
Also der ganze Zug lautet: 1.Tb1-b8+ (dieses Zeichen bedeutet: Schach!) K (abgekürzt für König) g8-h7. In abgekürzter Notation schreibt man auch 1.Tb8+ Kh7, indem man die Ausgangsfelder der Steine wegläßt.
Fortsetzung hier: Die Anfangsgründe (2)